Zwischen recyceltem Alpinholz, theologischer Tiefenschärfe und architektonischem Feinsinn: Wie Matteo Thun & Partners mit ihrer Installation „Fratelli Tutti“ auf der 19. Architekturbiennale in Venedig an universelle Werte erinnern – und dabei kunstvoll dem Zeitgeist entgleiten.

Architektur als Andacht
Venedig, Stadt der Spiegelungen und schwankenden Fundamente, wird zum Schauplatz einer kontemplativen Intervention: Fratelli Tutti, die neueste Installation von Matteo Thun & Partners, feiert auf der „19th International Architecture Exhibition of La Biennale di Venezia“ ihre Premiere – und bleibt dabei so leise, dass man sie fast überhören könnte. Fast.
Aus dem Holz einer verlassenen Berghütte im Südtiroler Pavicolo geformt, erhebt sich die Struktur weniger wie ein architektonisches Statement, sondern eher wie ein poetisches Innehalten: eine leise Einladung zur Reflexion über Menschlichkeit, Verbindung und das, was jenseits von Beton und Glas Bestand hat.

Wiederverwertung mit Weitblick
Das verwendete Holz – verwittert, aber würdevoll – trägt seine Geschichte sichtbar auf der Maserung. Es ist ein Material, das gelebt hat. Und weiterlebt. Durch seine Verwandlung von alpiner Schutzhütte zu biennalen Besinnungsort zeigt sich, wie Architektur nicht nur Räume, sondern auch Erzählungen recyceln kann.

Die Installation ist schlicht, aber nicht simpel. Ihre Ästhetik erinnert an japanische Teehausarchitektur, trifft sich aber gedanklich mit der katholischen Soziallehre, insbesondere der Enzyklika „Fratelli Tutti“ von Jorge Bergoglio – besser bekannt als Papst Franziskus. Dass der Pontifex jüngst verstorben ist, verleiht der Arbeit eine melancholische Tiefendimension, ohne sie in Rührseligkeit abgleiten zu lassen. Thun nennt ihn ein „Beispiel an Demut“. Man spürt: Hier wird nicht bloß zitiert, hier wird gelebt.

Drei Orte, ein Gedanke
Die Installation in Venedig ist nur der erste Akt einer architektonischen Trilogie, die sich wie ein spiritueller Roadtrip durch Europa anfühlt – allerdings ohne Benzinverbrauch. Nach dem venezianischen Intermezzo wandert Fratelli Tutti zurück in die Alpen, auf 2.000 Höhenmeter, wo sie als dauerhafte Rückzugsstätte dienen wird. Die zweite Station: eine steinerne Form in den toskanischen Apenninen, erbaut aus Monolithen, die mehr geologische Würde als so mancher Regierungsbau verströmen. Den Abschluss bildet eine Lehmstruktur auf Meereshöhe in Deutschland – Symbol einer Demut, die buchstäblich auf dem Boden bleibt.
Eine Einladung zum Zuhören
Was Thun & Partners hier entwerfen, ist keine Architektur der Eitelkeit, sondern eine Architektur des Zuhörens. Es geht nicht um das Spektakel, sondern um das Gespräch. Zwischen Materialien, Zeiten, Menschen. Die Installation fragt nicht: Wie groß kann ich werden? – sondern: Wie tief darf ich wirken?

Die Wahl Venedigs als erster Standort ist dabei alles andere als willkürlich. Wo sonst könnte man besser über Brüderlichkeit nachdenken als in einer Stadt, die über Jahrhunderte von Kaufleuten, Kulturen und Konflikten geformt wurde – und trotzdem noch steht?